Ein musikalischer Griff nach den Sternen

Nur visuell im Schatten der Orgel: Walter Schuster mit dem NKO. wip

Erstes Konzert der Nürtinger Orgeltage 2007 in der Stadtkirche mit Thomas Gindele und dem Nürtinger Kammerorchester

 

VON REINMAR WIPPER

 

NÜRTINGEN. Ganz schön was auf die Ohren der rund 250 Zuhörer gabs am Sonntag in der Nürtinger Stadtkirche, als Dirigent Walter Schuster sein Nürtinger Kammerorchester (NKO) mit sinfonischer Stringenz zu konzentrierter Hochleistung führte. Im Eröffnungskonzert der heurigen Orgeltage verlangte des Maestros tief fühlende Körpersprache von den Damen und Herren an den Streichinstrumenten ebensolche Emotionalität.

 

Diese Symbiose gelang imponierend bis zum letzten Stück des anderthalbstündigen Programms, das scheinbar ohne viel Federlesens je ein Werk von Carl Philipp Emanuel Bach, Ralph Vaughan Williams, Edvard Grieg und Francis Poulenc aneinanderreihte: Kaum Wiedererkennbares, keine kompositorischen Edelsteine, nichts aus der Mottenkiste. Der erfahrene und repertoirefeste Musikpädagoge Schuster führte offenbar Komponisten zusammen, die in den von ihm aufgelegten Werken ihr Wirken relativierten.

Der zweitgeborene und erfolgreiche Bach-Sohn Carl Philipp Emanuel teilt mit seinen Brüdern Friedemann und Johann Christian das Los, selten ohne das Attribut Sohn genannt zu werden. Dabei haben sich die drei noch zu Lebzeiten des Vaters aus dessen Wertewelt gelöst, um sich probierend und maßgeblich gestaltend dem Neuen zuzuwenden.

Als Pioniere des Übergangs baute ihre Musik zwar auf dem Fundament der väterlichen Schule, erschloss aber das Neuland des durchsichtigen Espressivo und der gefeilten Kleinmotivik. Derart wurden die Söhne selbst zu Vätern von Nachahmern. Insbesondere Mozart ist ohne den Mailänder Bach Johann Christian nicht denkbar.

 

Die Vielfarbigkeit der Orgel salbte die Ohren

 

Carl Philipp Emanuels Konzert für Orgel und Streicher blüht wie ein Frühbeet galanter Rokoko-Pflänzchen. Der Gastsolist an der Orgel Dekanatskirchenmusiker Thomas Gindele aus Göppingen fand erst im zweiten Satz zu homogenem Zusammenspiel mit dem Orchester, das für derlei Musik auffallend dick besetzt war. Die Vielfarbigkeit der neuen Orgel salbte die Ohren bereits zu Beginn. Mit klarer Obertonschärfe im Kopfsatz und saitenähnlicher Sanftheit im langsamen Abschnitt vermochte Thomas Gindele das meisterliche Instrument ins rechte Licht zu setzen.

Englische Musik des 20. Jahrhunderts ist hierzulande weniger bekannt. Die Fantasie über ein Thema von Thomas Tallis für zwei Streichorchester ist eine originelle Meditation mit den Klangfarben von Violine bis Kontrabass, vom NKO körperlich griffig und mit Inbrunst gespielt. Williams mehrheitlich tonale Musik entstand in einer Zeit, als die Großen des Jahrhunderts mehrheitlich eben nicht mehr tonal gearbeitet haben. Williams schlägt keine Türen zu, steht aber sozusagen unschlüssig auf der Schwelle zur neuen Zeit.

 

Geschmackvolle Musik fürs Ohr des Genießers

 

Dem Arbeitstitel Kirchenkonzert tat ein Werk des Norwegers Grieg keinen Abbruch. Seine Streichersuite Aus Holbergs Zeit, in der Merkmale traditioneller höfischen Suitensätze getroffen sind, gehört gerade ihrer metrischen Typologien wegen zu den Standardstücken in der Dirigentenausbildung des Musiklehrers an höheren Schulen.

Gleichwohl handelt es sich um geschmackvolle Musik fürs Ohr des Genießers, ohne schwindende Attraktivität. Auch Grieg relativiert nämlich sein national-romantisches Idiom am Kanon der Metren und Motivik einer vergangenen Zeit.

Das NKO hat diese Übungsstücke interpretiert, also mehr aus ihnen gemacht, als bloße Handwerksroutine abliefern kann. Besonders nachhaltig im Ohr bleiben die leidenschaftlichen Kantilenen des Solo-Cellisten sowie der beseelte Griff nach den Sternen, sprich in die Höhenlagen der Geige von Konzertmeisterin Birgit Schuster.

Und schließlich Francis Poulenc, Enfant terrible der Pariser Musikszene zwischen den Weltkriegen. Thomas Gindele hatte im Konzert für Orgel und Streichorchester das Organum inzwischen voll im Griff und eröffnete das Werk mit rassig angereicherter Registrierung. Lautstarke Klangwände, die wenig später am satten orchestralen Fortissimo reflektiert werden, nicht unähnlich den abenteuerlich brutalen Klangklötzen bei Poulencs Zeitgenossen Edgar Varèse. Spätestens an dieser Stelle wurde klar, weswegen das Kammerorchester rein zahlenmäßig fast die ganze Emporenbreite füllen musste.

Poulenc blieb seinem Mentor Eric Satie verpflichtet, teilte mit ihm die Vorliebe für Trivial-Zitate und zerschnitt diese durch provozierend gesetzte Klangsensationen: Tonleitern aus der Etüdenschule, Kadenzgefüge aus der Schublade des Kirchenorganisten, und zum Beschluss das ironische Zitat für den Bildungsbürger: Di-da-dieee aus Bachs Toccata in d-Moll. Poulenc lockt und foppt und unterhält damit.

Ein gelungenes Konzert, viel Beifall für schöne Musik und Interpreten mit Niveau, hörenswert musiziert und anregend für das Nachfolgende, wozu Kantorin Angelika Rau-Čulo eingangs eingeladen hatte: Weitere drei Konzerte der Orgelreihe, dann wieder ohne Eintrittsgeld, stehen an den kommenden Sonntagen ins Kirchenhaus. Zunächst in St. Johannes, mit Orgel, Posaune und Alphorn.

 

Quelle: NTZ 09.10.2007

Eine wunderbare Musikstunde

Rosins Alphorn flutete den Kirchenraum mit schwebender Fülle. Foto: rw

Posaunenvirtuose Armin Rosin und Kantor Andreas Merkelbach bestritten gemeinsam das zweite Konzert der Nürtinger Orgeltage

 

VON REINMAR WIPPER

 

NÜRTINGEN. Aus Böhmen kommt die Musik, heißt es im volkstümlichen Schlager. Aber warum tut sie das? Warum vertreten viele renommierte Repräsentanten der musikalischen Zunft diese Meinung? Weil tatsächlich im Böhmerland jeder Mensch musikalisch ist, jeder zweite ein Instrument spielt und manche dieser Musikanten regelrechte Erzmusikanten sind. So wie Armin Rosin, seines Zeichens Lehrer für Posaune an der Stuttgarter Musikhochschule, professoraler Nestor und gleichzeitig charmant-gewitzter Musikant. Als Kind musste er zuerst das Geigenspiel erlernen, bekam mit 13 Jahren eine Posaune in die Hände, hat, nach eigenen Worten, mehrere Wochen lang Tag und Nacht darauf probiert und geübt, und war schon in jungen Jahren Posaunist in ersten Orchestern der Bundesrepublik.

 

Die Zuhörer des zweiten Konzerts der Nürtinger Orgeltage am Sonntag in der St.- Johannes-Kirche wussten es rasch als Glücksgriff zu schätzen, dass Kantor Andreas Merkelbach diesen Hochkaräter des Tiefblechs auf seine Orgelempore geholt hat. Kantor und Posaunist gestalteten im lockeren Wechsel ein unterhaltsames und anspruchsvolles Konzert, zur Freude von rund 200 Zuhörern.

Eine Petite Suite aus der Feder von Jean Joseph Mouret (ein Zeitgenosse von Bach, Kapellmeister und Musikdirektor verschiedener Pariser Institutionen) eröffnete den bunten Musikreigen. Bemerkenswert waren weniger die routiniert verspielten Sätzchen, sondern die Basstrompete als Soloinstrument mit selten gehörtem Timbre. Professor Rosin gab in anekdotisch knappen Sätzen die Geschichte um sein Instrument wieder, das er aus dem Nachlass des ersten deutschen Posaunenprofessors geschenkt bekam, nachdem dieser den jungen Rosin in einer Life-Übertragung im Fernsehen gehört hatte. Dieses relativ selten gebrauchte Instrument liegt in der Tenorstimme der Posaune, hat aber ein konisches Rohr und klingt deswegen samten wie das Flügelhorn, aber eben mit der Potenz zu mächtigem Forte in breitem Ton.

Ein weiterer Verwandter der kegelförmig gehöhlten Instrumente stand derweil im Altarraum bereit: ein Alphorn, das laut Armin Rosin zu Unrecht der schweizerischen Musiktradition vorbehalten sei. Schließlich komme es, dem Jodeln vergleichbar, in den Bergwelten rund um den Erdball vor. Einleitend zur Präsentation des Instruments mit einer Meditation von Nimra Korinthos (Jahrgang 1939) erläuterte Universalbläser Rosin die Technik des Blechblasens. In wenigen Minuten gab er heiter und lehrreich zugleich einen umfassenden Einblick in diese Kunstfertigkeit, bei der die Töne mit den Lippen erzeugt und vom Zwerchfell gestützt werden. Das Instrument ist deswegen nicht Tonerzeuger, sondern Resonanzkörper. Allein mit den Lippen oder auch nur mit einem Mundstück vermag der Könner Töne und Melodien hervorzubringen, was natürlich erst recht mit dem Alphorn eine schwebende Fülle erzeugte, die den gesamten Kirchenraum flutete und von der Orgel durch feine Obertonstimmen zu irisierender Mehrstimmigkeit erweitert wurde.

Andreas Merkelbach interpretierte zwischen den Bläserstücken je ein Orgelwerk von Dietrich Buxtehude und Anton Bruckner. Das fis-Moll-Präludium samt Fuge des Erstgenannten durchschreitet andauernd Quintfallkadenzen, die bis heute in der Jazzharmonik fortleben. Dagegen ergingen sich Vorspiel und Fuge bei Bruckner in schwereren Harmonikwandlungen von Medianten und enharmonischen Metamorphosen. Kantor Merkelbach entlockte in beiden Stücken seiner Orgel gekonnt gefügte Registermischungen, die vom schärferen Barockton bis zu obertonarmen Streicherklängen der romantischen Orgel reichten.

Unvorbereitet traf die Zuhörer in Rheinbergers Ave Maria für Posaune und Orgel die kraftvolle Gesangsstimme des Solisten Rosin, der mit Bayreuther Volumen den gesamten lateinischen Text sang, eingerahmt durch Abschnitte der Posaune, die mit Begleitung der Orgel ihre stimmliche Bandbreite entfaltete. Vom flauschig-weichen Flüstern bis zum sinfonisch wallenden Tönestrom zeigte Rosin sein französisches Instrument als wandlungsreiches Multitalent. Diese Universalität von Instrument und weltbekanntem Bläserstar trug in Alexandre Guilmants Morceau Symphonique für Posaune und Orgel zu einem Gesamterlebnis bei, das den Bemühungen eines weit größeren Ensembles in nichts nachstand.

Erst recht ließen die abschließenden Kapriolen der Posaune im Spiritual Go, tell it to the mountain die Zuhörer gelöst aufhorchen. Armin Rosin ließ es sich nicht nehmen, erneut seine Singstimme erschallen zu lassen, seine Posaune mit den Klangeffekten diverser Dämpfer auf Revue zu schicken, während Andreas Merkelbach auf der Orgel swingend die Spur hielt. Eine historische Anspielung beschloss in der Dreingabe das fabelhafte Konzert, als Rosin die Mauern von Jericho einfallen ließ, mit schmetterndem Krawall von oben nach unten durch die gesamte Tonlage seines Instruments. Eine wunderbare Musikstunde ging damit zu Ende, begleitet von dankbarem Applaus der Gäste.

 

Quelle: NTZ vom 16.10.2007