Leipzig 1724

Stunde der Kirchenmusik

Samstag, 16. Februar 08, 18 Uhr

J. Kuhnau: „Gott sei mir gnädig“

G. Ph. Telemann: „Ach Herr, strafe mich nicht“

Chr. Graupner: „Also hat Gott die Welt geliebet“

J. S. Bach: „Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir“ BWV 131

 

Christine Reber, Sopran / Ursula Eittinger, Alt / Michael Berner, Tenor / Thomas Scharr, Bass 

Mitglieder der Stuttgarter Kantorei / Instrumentalisten

Leitung: Michael Čulo

 

Selten kommt es vor, an einem Abend Werke von vier Thomaskantoren bzw. Anwärtern auf dieses Amt zu hören. Als sich im Jahr 1722 die Frage stellte, wer Nachfolger von Johann Kuhnau als Thomaskantor werden sollte, war zunächst Georg Philipp Telemann im Gespräch. Der nutzte die Gelegenheit, sich sein Gehalt in Hamburg aufbessern zu lassen und lehnte das Leipziger Angebot ab. Christoph Graupner, den er daraufhin empfahl, wurde von seinem Landesherrn in Hessen-Darmstadt nicht entlassen und bekam ebenfalls ein höheres Salair. Ende Mai 1723 nahm schließlich Bach seinen Dienst in Leipzig auf. Als Kantor und Musikdirektor war er für die Musik in den vier Hauptkirchen der Stadt verantwortlich.

 

Drei der Kantaten haben Bußpsalmen zur Grundlage und stimmten in die vorösterliche Passionszeit ein.

"Leipzig 1722" als musikalischer Brennpunkt

Die neue Reihe Stunde der Kirchenmusik in der Stadtkirche präsentierte ein interessantes Kantatenprogramm mit Stuttgarter Gästen

 

NÜRTINGEN. Ein interessantes und musikalisch überzeugendes Programm unter dem Titel Leipzig 1722 erfreute am Samstagabend zahlreiche Zuhörer bei der Auftaktveranstaltung der Reihe Stunde der Kirchenmusik in der Stadtkirche. Zu Gast war ein Vokalensemble, das aus rund 20 Mitgliedern der Stuttgarter Kantorei bestand, dazu gab es vier Gesangssolisten und ein kleines Orchester. Die Leitung hatte Michael Čulo ( Ehemann der Nürtinger Kantorin Angelika Rau-Čulo). Er hatte das Konzert für die Stuttgarter Stiftskirche konzipiert und dort aufgeführt, und über ihn konnte es nach Nürtingen vermittelt werden.

 

Eine originelle Idee war es, das musikalische Umfeld der Thomaskirche in Leipzig zur Zeit von Johann Sebastian Bachs Bewerbung und Anstellung zum Erklingen zu bringen. Vier musikalische Persönlichkeiten spielten dabei eine Rolle. Der angesehene Amtsinhaber, Thomaskantor Johann Kuhnau, verstarb im Jahre 1722. Erste Wahl für die Neubesetzung war Georg Philipp Telemann. Er nutzte das Leipziger Angebot, um seine Stelle als Musikdirektor in Hamburg finanziell aufzubessern, und blieb in der Hansestadt. Dann wurde der Darmstädter Kapellmeister Christoph Graupner ins Auge gefasst, doch dessen Landesherr in Hessen-Darmstadt ließ ihn nicht gehen. Erst jetzt kam der Köthener Kapellmeister Bach zum Zuge, und niemand ahnte, was er aus seinem Amt als Thomaskantor machen würde, das er am 5. Mai 1723 antrat.

Mit vier Kantaten, thematisch passend zur Passionszeit, konnte man also eintauchen in die Spielarten der barocken Kirchenmusik, wie sie im protestantischen Leipzig gepflegt wurden. Kuhnaus Psalmkantate Gott, sei mir gnädig brachte mit dem vibratolosen Samtklang der Streicher und perfekt intonierenden Choristen einen feierlich getragenen Auftakt. Gegenüberstellung von Soli und Tutti und starke Wechsel im emotionalen Ausdruck belebten das musikalische Geschehen.

 

Dass sich an einzelnen Worten die Musik mit kontrastierenden Affekten förmlich entzündet, das hörte man in Telemanns Solo-Kantate Ach Herr, strafe mich nicht. So wurde die Schwäche oder der Schreck bildhaft ausgemalt, Todesstarre erinnerte mit unheimlichem Staccato an die eisige Stimmung in Vivaldis Winter, beim Seufzen assistierte die Violine, Verfall ereignete sich in tiefen Sprüngen. Gegen Ende ergab sich Zuversicht im Gebet und dann überraschte ein virtuoser, abrupter Abschluss, als die Feinde zuschanden werden plötzlich. Telemann zeigte sich als Meister der Einfälle auf kleinem Raum. Und Ursula Eittinger als Solistin bestach in dem anspruchsvollen Stück mit einer völlig eben geführten Altstimme.

 

Ganz anders angelegt war Graupners Kantate Also hat Gott die Welt geliebt. Zwar auch hier Affektdarstellung, doch der Aufbau mit Wechsel von Chor, Rezitativ, Arie und Choral sowie die musikalischen Figuren erinnerten eher an das vertraute Werk Bachs oder auch Händels. Im ersten Teil erfreute hier der Bassist Thomas Scharr mit seiner in allen Lagen hell getönten Stimme und guter Textverständlichkeit. Im zweiten Teil hatte die Sopranistin Christine Reber Gelegenheit, ihre Gestaltungskraft vorzuführen, wobei vor allem eine schöne Mittellage auffiel. Schließlich Bachs Kantate 131, Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir, als frühes Werk eingestuft, voller musikalischer Ideen, mit Anklängen an seine bevorzugte Orgelform, nämlich Präludium und Fuge. Im Klangbild trat hier zu den Sängern und Streichern noch eine Barock-Oboe, stilsicher gespielt von Angela Knapp. In den Chören konnten die Stuttgarter Gäste nochmals ihre homogene klangliche Qualität demonstrieren, nicht zuletzt, wenn einzelne Stimmgruppen solistische Passagen hatten.

 

Zwei komplexe Trio-Teile zeigten ganz besonders, dass Bachs polyphone Kunst bis heute fasziniert. Einmal das von Thomas Scharr gesungene Arioso (So du willst, Herr) in Kombination mit einer Choralstrophe (Christine Reber) und der obligaten Oboe, zum andern die Tenor-Arie (Meine Seele wartet auf den Herrn) kombiniert mit einer Choralstrophe ( Ursula Ettinger) und tänzerisch agierender Continuo-Gruppe. Daniel Kluge bewältigte seinen Arien-Part mit tragfähiger und von tenoralem Schmelz geprägten Stimme.

 

Es war das Verdienst von Michael Čulo, dass das barocke Stimmengeflecht seine Durchsichtigkeit erhielt. Überhaupt dirigierte er sensibel, ohne falsches Pathos, mit klarer Tempovorstellung und brachte die überaus kontrastreichen Aspekte der Kantaten den Zuhörern nahe. Lange anhaltender Beifall in der voll besetzten Stadtkirche belohnte die Ausführenden. Für die Veranstalter war der gute Besuch eine Bestätigung, dass die neue monatliche Reihe Stunde der Kirchenmusik in Nürtingen angenommen wird.

Eckhard Finckh

Quelle: 19.02.08