Ich habe genung

Stunde der Kirchenmusik

Samstag, 24. Januar 09, 18 Uhr

Jan Dismas Zelenka: „Confitebor tibi Domine“

Johann Sebastian Bach: Kantate „Ich habe genug“ BWV 82

Georg Philipp Telemann: Oboenkonzert d-Moll

Henry Purcell: Sonate g-Moll

 

Thomas Scharr, Bariton

ensemble cordial

Leitung: Michael Čulo

 

Thomas Scharr, inzwischen längst kein Unbekannter mehr in Nürtingen, musizierte an diesem Abend zwei Solokantaten von Jan Dismas Zelenka, einem der bedeutendsten Meister der Barockzeit und dem großen Johann Sebastian Bach, dessen bekannte Solo-Kantate „Ich habe genug“ für das Fest Mariae Reinigung am 2. Februar 1727 entstanden ist.

Feinsinnige Musik in barocker Nachdenklichkeit

Barocke Klänge in der Stadtkirche Foto: Erika Kern

Stunde der Kirchenmusik in der Nürtinger Stadtkirche mit Werken von Purcell, Telemann und Bach

 

NÜRTINGEN. „Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren“ – unter diesem programmatischen Titel fand die erste Stunde der Kirchenmusik im neuen Jahr in der Nürtinger Stadtkirche statt. Dieser Satz aus dem Lukas-Evangelium verweist auf das Fest Mariae Reinigung, das am 2. Februar begangen wurde. Im Lukas-Evangelium spricht sie der alte Priester Simeon, dem prophezeit worden war, er sehe vor seinem Tod den Messias, den Erlöser. Liturgisch gehörte zu diesem Fest die Lesung der alttestamentlichen Epistel aus Maleachi: Ein Prophet spricht dort vom Kommen Gottes. Durch die beiden Lesungen von Dekan Michael Waldmann wurde dieser bedeutungsvolle Rahmen gespannt.

 

Das feinsinnige Programm war ganz der wohlklingenden Musik des Barockzeitalters gewidmet. Barocke Lebenslust und Todessehnsucht, die ars vivendi und die ars moriendi, wurden auf hohem musikalischem Niveau interpretiert. Eingangs erklang der Lobpsalm 110 in der Vertonung von Jan Dismas Zelenka, der als böhmischer „Kirchencompositeur“ in Dresden wirkte. Thomas Scharr (Bariton) gestaltete differenziert mit seiner schlanken, klangfarbenreichen Stimme seinen Solopart, einfühlsam und lebendig begleitet vom Ensemble Cordial (Dietlind Mayer und Isabelle Farr, Violinen, Céline Papion, Violoncello, und Kiyomi Sobue, Kontrabass), das sich der Interpretation und Aufführung barocker Musizierweise verschrieben hat, und Angelika Rau-Čulo an der Truhenorgel.

 

Henry Purcells „Große Chaconne“ in g-Moll mit ihrer musikalisch spannungsreichen harmonikalen Struktur wurde dann ausdrucksstark interpretiert. Diese Variationen über dem gleichbleibenden Bass waren gleichsam eine Meditation über die Botschaft des Psalms 110, wohltuend in gemäßigtem Tempo vorgetragen, mit starker Betonung der Bassfigur, die so wirklich Fundament für die sich figurenreich entwickelnden Stimmen wurde.

 

Nach der Maleachi-Lesung spielte Sandra Schumacher im Oboenkonzert in e-Moll von Georg Philipp Telemann den Solopart. Mit musikalischer Sensibilität verstand sie in den langsamen Sätzen die Oboenstimme kantabil zu entfalten, und in den schnellen Sätzen stand nie die Virtuosität im Vordergrund. Das Ensemble Cordial, nun auch mit Sophia Hartmann (Viola), bot ein lebendiges, ganzheitliches Zusammenspiel unter Michael Čulos behutsamem, gleichsam atmenden, musikalischen Dirigat. In der festlichen Musik, von Telemann für den Dresdener Hofoboisten Richter komponiert, wurde barocke Kompositionskunst deutlich und die Freude an der Kunst des Lebens hörfällig. Mit großer Leichtigkeit und Gestaltungsvielfalt wurde hier musiziert.

 

Das zweite Werk von Purcell war an diesem Abend die Sonate Nr. 5 in g-Moll. Er hat sie im italienischen Stil komponiert, dem er – entgegen dem französischen Stil seiner Zeit – „Ernst und Würde“ zuschrieb. Diese wurden in der Interpretation der Instrumentalisten hörbar. Mit leichter Hand, rhythmisch differenziert und dynamisch gestalteten sie die einzelnen Sätze. Eindrucksvoll dehnten sie die zur Auflösung drängenden Dissonanzen im letzten Satz und zeigten, wie spannungsvoll und ausdruckssteigernd diese sein können. Es fiel immer wieder auf, wie ernst auch hier Satzbezeichnungen und deren Bedeutung für Ausdruck und Wirkung der Interpretation genommen wurden.

 

Die Lesung aus Lukas 2 führte unmittelbar zur Kantate für Basso solo „Ich habe genug“, 1727 geschrieben zum „ festo Purific. Mariae“, wie es auf dem Titelumschlag der Partitur von 1750 steht. Michael Čulo führte sie in der originalen kleinen, für Bachs beschränkte Instrumentalverhältnisse typischen Besetzung auf: Oboe, zwei Violinen, Viola, Basso Continuo, in der Urfassung in c-Moll.

 

Diese schlanke Besetzung steigert die innige Eindringlichkeit des bekannten Werkes. In barocker Manier wird die Kunst des Sterbens aus protestantischem Glaubensverständnis heraus von der Sicht des greisen Simeon auf die subjektive Betrachtung des Christen übertragen. Er sagt der Welt gute Nacht, weil der Tod für ihn Durchgang zu einem Leben in Ruhe und Frieden bei Jesus ist.

 

Bach war diese Solokantate offensichtlich sehr wichtig, denn sie liegt in vier Werkfassungen vor, alle in Moll. Die Verwandtschaft zur Matthäuspassion, die er wahrscheinlich am 11. April 1727 in der Thomaskirche Leipzig aufführte, wird in der ersten Arie deutlich. Thomas Scharr sang seinen Part sensibel, präzise und differenzierend. Dass er in den tiefen Lagen der „Schlummerarie“ nicht ganz so viel Volumen wie ein Bass entwickeln konnte, ist verständlich.

 

Die Kantate „Ich habe genug“ erwies sich als ein überaus intensives Musikerlebnis. Die Kunst des großen Kirchenmusikers Johann Sebastian Bach wurde deutlich als sein Anliegen, Kirche und Welt in der Musik zu vereinen. Helmuth Kern

NTZ, 27.01.2009