„im Gang und im Schwang“

Sonntag, 20. November, 19 Uhr

 

Vincent Frisch, Sopran

Diana Schmid, Alt

Daniel Jenz, Tenor

Patrick Pobeschin, Bass

Nürtinger Kantorei

camerata laurentiana 

Leitung: Angelika Rau-Čulo

 

Immer wieder waren in den vergangenen Jahren Werke von Bezirkskantor Michael Čulo in der Stadtkirche zu hören. Im Jahr 2011 nun entstand die Komposition „Martinus“, die Michael Čulo anlässlich des Jubiläums „900 Jahre Martinskirche Neckartailfingen“ komponiert hat. In seiner dreiteiligen Komposition vereinigen sich Chor, ein Knabensolist und drei weitere Solisten, Streicher, Oboe und Schlagwerk. Die Textgrundlage bilden sowohl biblische Texte, als auch Texte von Martin Luther und Martin Luther King.

Den passenden Rahmen zur Uraufführung der Čulo’schen Kantate bildeten die beiden Bachkantaten „Weinen, Klagen, Sorgen, ZagenBWV 12 und „Wachet! betet! betet! wachet!BWV 70.

Die Kantate „Weinen, Klagen“ ist wohl das zweite Werk mit dem Bach nach seiner Ernennung zum Konzertmeister seiner Verpflichtung, monatlich neue Stücke für den Gottesdienst der Weimarer Schlosskapelle zu liefern, nachgekommen ist. Die Textgrundlage zur Kantate stammt von Salomon Franck, der den Grundplan seiner Dichtung aus dem vorgegebenen Kontrast „Traurigkeit – Freude“ entwickelt. Die Christusworte „Ihr werdet weinen und heulen“ und das folgende Bibelwort „Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes eingehen“ wollen uns sagen, dass das Wort von der Traurigkeit, die in Freude verkehrt werden soll, auch heute für jeden Christen gilt.

Die Bachkantate „Wachet! betet!“ ist zum 21. November 1723 entstanden, und zwar durch Umarbeitung der Weimarer Kantate BWV 70a, für die an ihrem Bestimmungstag, dem 2. Advent, in Leipzig keine Aufführungsmöglichkeit bestand. Da die Lesungen beider Tage vom Ende der Zeiten und der Erwartung der Wiederkunft Christi handeln, war eine Umarbeitung nicht schwer. In seiner Komposition vereint Bach den jugendfrischen, originellen Erfindungsreichtum seiner Weimarer Jahre mit dem Zug zur großen Form, der gerade in den Adventskantaten von 1716 und 1723 offensichtlich wird. Im Eingangschor der Kantate BWV 70 erprobt Bach erstmals im großen Stil die Kompositionstechnik des Choreinbaus in die Wiederholung ausgedehnter Partien des Orchesterritornells. Dadurch entsteht ein spannungsreicher Wechsel zwischen dem Hervortreten des Chores (mit begleitendem Orchester) und dem Hervortreten des Orchesters (mit hineinkomponiertem Chor).

Im Konzert zum Ewigkeitssonntag am 20. November 2011 um 19 Uhr, das den Titel „im Gang und im Schwang“ trug, musizierten die Nürtinger Kantorei, Vincent Frisch (Knabensopran), Diana Schmid (Alt), Daniel Jenz (Tenor), Patrick Pobeschin (Bass) und das Orchester „camerata laurentiana“ mit Joachim Ulbrich (Konzertmeister). Die Leitung hatte Angelika Rau-Čulo.

Kostbar gewobener Klangteppich

Beifall und Blumen nach mitreißendem Konzert: Michael Čulo und Angelika Rau-Čulo. kmm

Nürtinger Kantorei konzertierte in der Neckartailfinger Martinskirche

 

VON KONRAD MAIER-MOHNS

 

NECKARTAILFINGEN. Die Konzertbesucher in der voll besetzten Martinskirche in Neckartailfingen erlebten am Sonntagabend die Uraufführung von „Martinus“ für Chor, Sprecher, Streicher, Marimbaphon, Glockenspiel und Schlagwerk. Bezirkskantor Michael Čulo hat das Werk auf Anregung des dortigen Pfarrerehepaars Ina Mohns und Konrad Maier-Mohns für das 900-jährige Jubiläum der Martinskirche komponiert. Seine Frau Angelika Rau-Čulo hat es mit der Nürtinger Kantorei einstudiert und die Uraufführung geleitet.

 

Zunächst jedoch sang die Kantorei „Das ist je gewisslich wahr“ von Heinrich Schütz. Die Schlagzeugerin Se Mi Hwang leitete über und füllte den Kirchenraum mit dem wunderbar erdigen Klang des Marimbaphons, der bei zwei Stücken von Eric Sammut und Takatsugu Muramatsu zur vollen Geltung kam.

Das Geburtstagsgeschenk für die Martinskirche zeigte sich dann als ein kostbar gewobener Teppich aus Chorstücken auf der Basis von neueren Chorälen oder eines Textes von Martin Luther, Abschnitten aus der „legenda aurea“ über den heiligen Martin – eindrucksvoll rezitiert von Luise Wunderlich –, gesprochener und gesungener Lyrik des 20. Jahrhunderts von Hilde Domin, Marie Luise Kaschnitz und Albrecht Goes. Die Besucher erlebten einen gelungenen Wechsel von musikunterlegten Sprechstücken, die das Hören konzentrieren, und hinreißend schönen Passagen wie „Wir glauben dich Gott“ und dem Spiritual „Precious Lord“, den Michael Čulo den Sätzen von Martin Luther King über seine eigene Beerdigung mit Streichermusik hinterlegt hat – bei der Beerdigung von King hatte damals Mahalia Jackson den Spiritual gesungen.

Für eine Prise Pfeffer sorgte beim Konzert ein humorvolles Detail aus der Martinslegende: Der Teufel versucht Martin, wird von ihm als Versucher entlarvt, verschwindet und hinterlässt in seiner Klosterzelle ein Ladung Gestank – vom Schlagwerk mit lautem Geklapper illustriert. Das Gebet des Heiligen wurde von Akkorden des Marimbaphons in Szene gesetzt, die Gegenwart des Heiligen Geistes vom vollen Klang des Glockenspiels symbolisiert. Das Werk endete mit dem modernen Choral „Der du uns weit voraus in Elendswelten gehst, sende mit Brot uns aus, Herr, und mit Frieden“. Dabei stellte sich der „musikalische Friede“ erst beim allerletzten Streicherton ein, ein Hinweis, wie weit der Weg dorthin ist.

Die Besucher dankten den Musikern und dem Komponisten mit begeistertem Beifall. Nach der kammermusikalischen Version von „Martinus“ wird am Sonntag, 20. November, 19 Uhr, die Orchesterfassung in der Stadtkirche Nürtingen zu hören sein, zusammen mit zwei Kantaten von Johann Sebastian Bach.

Quelle : NTZ 18.11.2011

„Immer versehrter und immer heiler“

Die Nürtinger Kantorei – hier mit Knabensopran Vincent Frisch – beim hingebungsvollen Musizieren Foto: Erika Kern

In der Nürtinger Stadtkirche wurde die Kantate „Martinus“ von Michael Čulo uraufgeführt

 

VON HELMUTH KERN

 

NÜRTINGEN. „Immer versehrter und immer heiler“ – diese Zeilen aus dem Gedicht „Bitte“, einem Gebet um Gnade von Hilde Domin, im zweiten Teil der Uraufführung der Kantate „Martinus“ (2011) gesungen, kennzeichnen ein überaus einprägsames Kirchenkonzert in der Stadtkirche am letzten Sonntag des Kirchenjahres. Es gelang den Bezirkskantoren Angelika Rau-Čulo und Michael Čulo, mit zwei Bachkantaten als Rahmen für „Martinus“ ein Gesamtkunstwerk zu schaffen, in dessen Zentrum die Botschaft christlichen Glaubens vom Heilen und von dem alle Schmerzen Heilenden stand.

 

Einem Vorspiel gleich erklang Bachs kunstvoll komponierte Kantate BVW 70 „Wachet, betet“, geschrieben zum 21. November 1723. Thema ist das schreckvolle Vergehen der Welt am Jüngsten Tag und das Wissen der gläubigen Seele um das gnädige Erbarmen Jesu, des Christus. Unter dem sensiblen Dirigat von Angelika Rau-Čulo führten die Nürtinger Kantorei, die Solisten Vincent Frisch (Knabensopran), Diana Schmid (Mezzosopran), Daniel Jenz (Tenor), Patrick Pobeschin (Bariton) und die camerata laurentiana das Werk auf. Es war eine Interpretation, die der Textbedeutung in ihrer musikalischen Gestalt nachspürt und die von hoher Empathie geprägt war.

 

Spannungsvolles Beziehungsgefüge

 

Mit der letzten Strophe des Schlusschorals, „Meinen Jesum lass ich nicht“, wurde ein thematisches Bindeglied zur zeitgenössischen Kantate „Martinus“ deutlich: geht es bei Bach um die Gewissheit der Versöhnung des Ich mit Gott, so wird dies bei Čulo im letzten Schlusschor zur Bitte um die Erfahrung der Gegenwart Christi und des daraus resultierenden Wirkens der Menschen für eine Welt ohne Hunger und voller Frieden. Diese Intention trägt Inhalt und Musik des „Martinus“; sie wird an drei exemplarischen Szenen (Mantelteilung, Versuchung durch den Teufel und Sterben Martins) nach der mittelalterlichen „Legenda aurea“ entfaltet. Zugefügt werden in den ersten beiden Teilen der Kantate zwei Texte aus dem Matthäus-Evangelium zum Gebot der Barmherzigkeit und der Liebe, im dritten Teil dann eine Stelle aus dem Markus-Evangelium über die Tugend des Dienens. Texte von Martin Luther in Teil I und II und von Martin Luther King in Teil III bilden eine weitere Bedeutungsebene, dazu kommen Texte von Albrecht Goes, Hilde Domin und Marie Luise Kaschnitz. Durch dieses Montageverfahren entsteht ein spannungsvolles, sich überlagerndes fünfschichtiges Beziehungsgefüge, in dem sich christlich-theologische und literarisch-künstlerische Aussagen zum Bild eines im Glauben geerdeten und aus diesem Impuls heraus handelnden Menschen verdichten.

Das sind Prozesse, die für Čulos Komposition wesentlich sind: Werden, Weg und Entwicklung sind für ihn „im Gang und im Schwang“ (Motiv des sehr informativen Programmheftes) und werden im Dreischritt „Gottespräsenz“ (Teil I), „Bekenntnis“ (Teil II) und „Vervollkommnung“ (Teil III) artikuliert. Diesen Prozess setzt der Komponist kongenial in eine äußerst lebendige und kontrastreiche Musik um. Tonale Klangwelt, statisch wirkende Klangflächen und dynamische Passagen, ausdrucksstarke, oft elementare Harmonik und spannungsgeladene Rhythmik geben den Texten Ausdruck und Eindringlichkeit.

Perkussionsinstrumente gehören für Čulo dazu: Röhrenglocken, Crotales, Tam-Tam, Marimbaphon, große Trommel und Blocks bilden ein klangfarbenreiches Schlagwerk. Sie haben Leitfunktion und stehen für die Sphäre des Göttlichen. Sinnbildhaft ist auch die Besetzung der Sopranstimme mit einer Knabenstimme für die Jesusworte in den Meditationes. Zum einen soll deutlich werden, dass die „Unmündigen“ Jesu Botschaft leichter verstehen können, zum anderen durchdringt gleichsam mit der biegsamen, weichen schwebenden Feinheit dieses Kopfregisters die tragende Schicht des Evangeliums die gesamte Musik- und Textkomposition.

 

Marimbaphon und Knabensopran sorgen für transzendente Wirkung

 

Die Satzfolgen Bach’scher Kantaten werden anverwandelt in Instrumentalvorspiel, Eingangschor, Rezitativ, Meditatio und Lied, die die Aria erinnern, und Schlusschoral. Formfiguren, die den Schluss Bach’scher Secco-Rezitative kennzeichnen, werden in flächigen Klangpassagen erinnerbar. Feinsinnig und wirksam werden die Kolorite der Instrumente eingesetzt, um den Textgehalt zu unterstreichen. Besonders eindrücklich gestaltet Čulo die „Meditatio“ in allen drei Teilen der Komposition: In äußert reduzierter Form schaffen Marimbaphon, von Se Mi Hwang musikantisch und präsent gespielt, und Knabensopran, von Vincent Frisch mit intonationsreiner, heller Stimme gesungen, eine transzendente Wirkung.

Mit Bachs Kantate BWV 12 „Weinen, Klagen“, die aus dem Kontrast von Trauer und Freude lebt und in deren Schlusschoral sich jubelnde Freude über die sichere Geborgenheit in Gottes guten Händen manifestiert, endete eine in sich stimmige, eindringliche Kirchenmusik. Zu deren hohem Niveau trugen auch Joachim Ulbrich (Erste Violine), Eve-Marie Ulbrich (Zweite Violine), Sandor Varga (Viola), Kirsty Wilson (Oboe/Englischhorn) und Karl-Heinz Halder (Trompete) in ihren musikantisch gespielten Solopartien bei.

Homogener Klang und musikalische Präsenz zeichnete durchgängig die Kantorei aus, lebendiges und präzises Spiel die Instrumentalisten, empfindsam für Tonfärbungen und Intention der musikalischen Linienführung gestalteten die Solisten ihre Partien: das mehr dramatische Timbre des Tenors Daniel Jenz, der volle Bariton von Patrick Pobeschin, der anpassungsfähige Mezzosopran von Diana Schmid und Vincent Frisch mit seinem klaren und leuchtenden Knabensopran. Der reiche Beifall war nach dieser Leistung zu erwarten.

Quelle: NTZ 23.11.2011