„Vive la France“ - 2. Konzert der Nürtinger Orgeltage
Samstag, 15. Oktober, 18 Uhr, Katholische Kirche St. Johannes
Dominique Levacque (Paris), Orgel
Der blinde Organist entstammt der berühmten Pariser Blindenschule, aus der auch die berühmten Organisten und Komponisten Vierne, Litaize und Langlais hervorgegangen sind.
Orgelmusik mit Tiefenraum
Der blinde Organist Dominique Levacque gab am Samstag ein begeisterndes Orgeltage-Konzert
VON HELMUTH KERN
NÜRTINGEN. Beim zweiten Konzert der VII. Nürtinger Orgeltage stand die Albiez-Orgel der St.-Johannes-Kirche im Mittelpunkt. Sie wurde von Dominique Levacque (Jahrgang 1964), Organist und Professor für Orgel, Klavier und Harmonielehre am Nationalen Institut der jungen Blinden (Paris), meisterhaft gespielt und in ihren vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten zum Klingen gebracht. Levacques Orgelspiel ist von überragendem spieltechnischem Können und einer sehr sensiblen Registrierungskunst geprägt. Ein vollendetes Orgelspiel, dessen Feinfühligkeit für die Qualitäten von Klangbildern, Artikulation, Phrasierung und Spannungsbögen vielleicht auch deshalb so groß ist, weil er als blinder Musiker ganz auf sein Gehör angewiesen ist, das ihm die Welt erschließt. Vielleicht hat auch deshalb Levacques Orgelspiel eine so überzeugende Intensität.
Differenzierte Artikulation, durchscheinende Klangfarbenräume, subtiles Herausarbeiten der musikalischen Linienführung, präzises und luzides Spiel und ein in sich schlüssiges Programm, das musikgeschichtliche Logik deutlich macht, kennzeichnete dieses Orgelkonzert. Intensität des Spiels wurde bereits zu Beginn in der „Bergamasca“ aus den Fiori Musicali, dem letzten Werk von Girolamo Frescobaldi (1583–1643), deutlich. Aus dem eingängigen Thema, dessen Ursprung in einem Bauerntanz aus Bergamo vermutet wird, entwickelte Frescobaldi eine differenzierte Variationskette mit unterschiedlichen Anmutungsqualitäten, die Levacque herausarbeitete.
Mit einer eigenen Improvisation über „Geh aus mein Herz und suche Freud“, vom Registranten Andreas P. Merkelbach als Nationalhymne Nürtingens bezeichnet, spannte Levacque mit Leichtigkeit den Bogen aus der Tiefe des italienischen Frühbarocks in die Gegenwart. Frescobaldis Stil sich anverwandelnd, entwickelte er in seiner dreiteiligen Improvisation den Sinngehalt der Dichtung Paul Gerhardts über Freuden und Tiefen menschlicher Existenz, die sich am Ende aufgehoben weiß in Gottes Schöpfung.
Levacque spürte den musikalischen Strukturen feinfühlig nach
Mit Kompositionen von Jean Langlais (1907–1991) stellte der Organist im „Ave Maria, Ave Maria stella“ (1933/34) den Bezug zum Rosenkranzmonat, der seit dem Mittelalter der Oktober ist, her. Danach spielte er zwei Werke aus den „Huit Chants de Bretagne“ (1974), dem Geburtsland des Komponisten. Langlais gehört zu den Großen der französischen Orgelschule des 20. Jahrhunderts. Er wusste, welche Gestaltungsbreite die Orgel für seine Kompositionen bietet. Diese verstand er, ganz in der Sichtweise Bachs, als „soli deo gloria“ oder wie er es selbst ausdrückte: „Jede Musik, der nicht die Verherrlichung Gottes zugrunde liegt, ist nutzlos.“ Levacque spürte den musikalischen Strukturen mit ihren lyrischen Passagen feinfühlig nach. In „Pensez à l’Eternité“ (Gedenke der Ewigkeit) erstrahlte nach einem großen Spannungsbogen am Ende im Tutti mit vollem Werk und dem scharfen Klang der spanischen Trompeten eine überwältigende Ewigkeit.
Es folgten drei Stücke von Gaston Litaize (1909–1991), Studienkollege von Langlais, blind wie dieser und ebenfalls Lehrer an demselben Institut, an dem heute Levacque unterrichtet. Litaize sah sich in seinem Musikschaffen in der Tradition César Francks, seinem „musikalischen Großvater“.
Mit dem deutschen zeitgenössischen Komponisten Robert Maximilian Helmschrott (geboren 1938), dessen Werk Levacque sehr schätzt, wurde dann der Bogen von Frankreich nach Deutschland gespannt. In den drei Stücken „Anmutiges“, „Wiegenlied“ und „Fröhliches Gehen“ aus seiner „Kleinen Orgelmusik“ wurde die psychologisch-suggestive Wirkung kompositorischer Mittel hörbar. „Fröhliches Gehen“: in Halbtonschritten dahineilend, mit kurzen, an das bekannte Rettungssignal erinnernden Einwürfen, entwickelt es sich zu einem abrupten kakophonen Schluss. Auch hier zeigt sich die wohlbedachte Zusammenstellung des Programms: die Erzeugung von Gefühlen und Gemütslagen war ein wichtiges Gebiet barocker Kompositionslehre gewesen, in der dissonante und harmonische Gefüge als Auslöser und Träger von Affekten gesehen wurden.
Werke von Johann Sebastian Bach bildeten somit folgerichtig den letzten Teil des Konzerts. Sein in der Weimarer Zeit, vermutlich 1709, entstandenes konzertantes Präludium und Fuge in D-Dur BWV 532 ist ein spieltechnisch äußerst anspruchsvolles Werk mit Solostellen für das Pedal. Getragen gestaltete Levacque das Präludium, interpretierte die dissonanten Partien voller Wucht, modellierte die harmonischen Stellen in ihrer Schönlinigkeit heraus und arbeitete am Ende den verstörenden und dreimal zur Auflösung drängenden Trugschluss mit höchster Eindringlichkeit heraus. Leichtigkeit und Freude dagegen prägten das Trio in A-Dur über „Allein Gott in der Höh’ sei Ehr’“, entstanden 1739 in Leipzig, das Levacque als retardierenden zielorientierenden Gedanken einschob, ehe die Fuge mit schnellem Tempo und all ihren kontrapunktischen Verästelungen und Verflechtungen in mitreißendem, äußerst musikalischem Spiel einen eindrucksvollen Schlusspunkt setzte. Bach’sche Orgelkunst in ihrer ganzen Vitalität konnte neu erlebt werden.
Dieses Konzert in der Reihe der Nürtinger Orgeltage hatte den reichen Beifall verdient. Und: Es war ein Konzert, das dem Namen der Reihe voll entsprach. In der weiträumigen Kirche wäre durchaus noch Platz für mehr Besucher gewesen.
Quelle: NTZ 18.10.2011
Orgel und Bläser wie aus einem Guss
Orgeltage: Stadtkapelle und Michael Čulo spielten gemeinsam
VON HELIN HAUG
NÜRTINGEN. Das dritte Konzert der Nürtinger Orgeltage am vergangenen Sonntag stand unter dem Motto „Con Fuoco“ (mit Feuer). In einer selten zu hörenden Besetzung spielte die Stadtkapelle Nürtingen unter Leitung von Herward Heidinger zusammen mit Michael Čulo an der Orgel in der Stadtkirche Sankt Laurentius.
Mit einer Sinfonia aus dem Oratorium „Salomon“ von Georg Friedrich Händel begann das abwechslungsreiche Konzert. Kirchenorgel und das Ensemble der Stadtkapelle Nürtingen erklangen als musikalische Einheit in der Stadtkirche. „Wir freuen uns sehr, dass die Kooperation mit der Stadtkapelle geklappt hat und wir eine Mischung von internationalen und regionalen Künstlern bei den diesjährigen Orgeltagen zustande gebracht haben“, sagte Bezirkskantorin Angelika Rau-Čulo. Auch die Nürtinger Turmbläser, ein Ensemble der Stadtkapelle, begeisterten das Publikum. Bei einem „Marsch“ von William Boyce, einer „Intrada“ von Johann Christoph Pezel und „La Majesté“ von Georg Philipp Telemann ertönten Trompete, Horn und Posaune in den Kirchengemäuern. Anschließend spielte Bezirkskantor Michael Čulo ein Orgelsolo mit dem Titel „Pastoral“ von César Franck. Gemeinsam spielten Orgel und Stadtkapelle das Stück „Emotionen“ des Allgäuer Komponisten Kurt Gäble. Gäble stellt darin Gefühle in den Mittelpunkt. Mit seiner Komposition spielt der Künstler auf die notwendige Ausgeglichenheit an, die heutzutage notwendig ist, um den Anforderungen der Gesellschaft und der Arbeitswelt zu genügen.
Čulo ließ ein weiteres Orgelsolo folgen: „Minuetto“ von Eugene Gigout. Daran anknüpfend spielte die Stadtkapelle Stefan Nilssons „Gabriela’s Lied“ aus dem schwedischen Film „Wie im Himmel“. Zum Schluss erklangen Orgel und Stadtkapelle noch einmal wie aus einem Guss. Mit „Amen“ von Pavel Stanek und „Alleluia! Laudamus te“ von Alfred Reed war der Höhepunkt des Konzerts erreicht und die Künstler ernteten viel Applaus vom begeisterten Publikum. Vor allem der letzte Titel aus der Feder von Reed faszinierte durch eine gewaltige Klangentwicklung, die sich, zunächst allein gespielt von der Stadtkapelle, allmählich aufbaute, um schließlich zusammen mit der später einsetzenden Orgel in ein wahrlich explosives „Alleluia!“ zu münden.
Das vielseitige und einzigartige Zusammenspiel von Orgel und Blasorchester sollte bei diesem Konzert erkennbar sein und ich denke, das ist uns durch die Gestaltung dieses abwechslungsreichen Programms durchaus gelungen“, freute sich Angelika Rau-Čulo.
Quelle: NTZ 19.10.2011
„Liszt – Alain – Dupré“
Samstag, 29. Oktober 2011, 20-23 Uhr
Andreas P. Merkelbach, Orgel (20 Uhr)
Angelika Rau-Čulo, Orgel (21 Uhr)
Michael Čulo, Orgel (22 Uhr)
Am Samstag, 29. Oktober fand die traditionelle Orgelnacht als Abschluss der Nürtinger Orgeltage 2011 in der Stadtkirche St. Laurentius statt. Sie stand unter dem Motto „Liszt – Alain – Dupré“; zentrale Werke dreier großer Komponisten standen auf dem Programm: Franz Liszt (200. Geburtstag), Jehan Alain (100. Geburtstag) und Marcel Dupré (40. Todestag). In den Pausen konnten sich die Zuhöreren im Chorraum der Stadtkirche mit Häppchen und einem Gläschen Sekt stärken.
Drei Temperamente, drei Auffassungen
Die VII. Nürtinger Orgeltage fanden am Samstag ihren furiosen Abschluss mit der traditionellen Orgelnacht
VON HELMUTH KERN
NÜRTINGEN. Mit der nun schon traditionellen dreistündigen Orgelnacht fanden die VII. Nürtinger Orgeltage ihr beeindruckendes Ende. Diese Nacht in der Stadtkirche St. Laurentius stand mit Werken von Liszt, Alain und Dupré ganz im Zeichen wichtiger Jubiläen, wie dies Michael Čulo in seiner Begrüßung zur ersten Stunde betonte. Franz Liszts 200. Geburtstag, Alexandre Guilmants 100. Todestag, Marcel Duprés 40. Todestag, Jehan Alains 100. Geburtstag – sie bildeten die Klammer der drei Stunden. In ökumenischer Eintracht brachten die drei Organisten Andreas P. Merkelbach (Kantor an der katholischen Kirche St. Johannes), Angelika Rau-Čulo und Michael Čulo (Bezirkskantoren an der Stadtkirche St. Laurentius) an der Goll-Orgel mit ihrer ausgezeichneten Disposition, die eine Vielfalt an Grundregistern und Farbregistern bietet, ihre Interpretationen zum Klingen. Dazwischen gab es Erfrischungspausen, in denen im Gespräch, mit oder ohne Sekt, die Stunde nachklingen konnte.
Drei Stunden, drei Temperamente, drei Auffassungen: Gleichsam pastos, mit breitem Strich und sattem Duktus, stellte Merkelbach, der diesmal die erste Stunde gestaltete, monumentale Klanggemälde in den Raum. Expressiv, zugreifend mit musikantischer Feinfühligkeit spielte Angelika Rau-Čulo in der zweiten Stunde die Orgel, filigran-ziselierend Michael Čulo in der dritten. Alle drei trugen die Werke der französischen Orgelschule des späten 19. und des 20. Jahrhunderts mit ihren spieltechnisch hohen Anforderungen souverän und in einer stimmigen Registrierung vor.
Mit Franz Liszts Orgelbearbeitung, Anfang 1860 in Rom entstanden, „Der Gnade Heil ist dem Büßer beschieden“, Pilgerchor aus der Oper „Tannhäuser“ seines Schwiegersohnes Richard Wagner, setzte Merkelbach die Klangarchitektur wirkmächtig an den Anfang des Konzerts; es wurde hörbar, was ein Zeitgenosse über Liszts Haltung zur Orgel gesagt hatte: „Wie er früher das Pianoforte zu behandeln vermochte, einzig in seiner Art, so weiß er jetzt auf der Orgel den ganzen Glanz und die ganze Pracht des Instruments zur Darstellung zu bringen.“ Von den insgesamt elf Orgelwerken, die Liszt geschrieben hat, waren an diesem Abend zwei weitere zu hören: „Die kirchliche Festouvertüre über den Choral ‚Eine feste Burg ist unser Gott‘“ nach der Vertonung von Otto Nicolai von 1844, 1852 von Liszt für Orgel bearbeitet. Sie entwickelte Merkelbach in ihrem majestätisch-festlichen Duktus breit, farbenreich und wuchtig und beschloss damit die erste Stunde.
Am Ende der dritten Stunde spielte Michael Čulo dann die Variationen über den chromatischen Bass von Johann Sebastian Bachs Kantate BWV 12 „Weinen Klagen, Sorgen Zagen“ (1863) transparent, in äußerster Behutsamkeit und bewegender Innerlichkeit mit hohem spieltechnischen Können. Liszt hatte das Orgelwerk nach dem Tod seiner Tochter Blandine komponiert. Mit beeindruckender Registrierungskunst spürte Čulo den vielfältigen Kompositionslinien sensibel nach. Einfühlsam in Artikulation und Dynamik, gestaltete er das Werk in seiner klagenden und im Schlusschoral „Was Gott tut, das ist wohlgetan“ tröstenden Botschaft.
Unterschiedliche Schwerpunkte lagen den drei Stunden zugrunde, so in der ersten Stunde Jehan Alains „Hängender Garten“. Alain (1911–1940) schrieb unter den Titel des Werks: „Der hängende Garten ist das Ideal der Künstler, beständig erstrebt und doch beständig flüchtig, er ist seine unzugängliche und unverletzliche Zuflucht.“ Merkelbach verstand es, diesen Ort in seiner impressionistischen Farbigkeit, mit seinen orientalischen und fernöstlichen Einflüssen in einer fein registrierten Farbigkeit und zurückhaltenden Dynamik miniaturhaft herauszuarbeiten. Der zweiten Stunde gab Alains „Litanies“, 1937 komponiert und 1938 uraufgeführt, das Profil. Ein Gebet ist für Alain keine Klage, sondern ein Tornado, der alles, was sich ihm in den Weg stellt, hinwegfegt. Im zupackenden, feinfühligen Spiel von Angelika Rau-Čulo wurde dieses Credo der „Litanies“ mit seinem tragenden, immer wieder hervorbrechenden Motiv hörfällig, das sich nicht einfach in Harmonie auflöst, sondern widerständig bis zum offenen Schlussakkord bleibt.
Technisch äußerst anspruchsvoll, vierstimmig im Pedal und mit perlenden Arabesken im Manual beginnt Marcel Duprés (1886–1971) „Prélude et Fugue“. An keiner Stelle spürte man die spieltechnisch hohen Anforderungen. Vielfarbig und in der Dynamik äußerst abgestufte Klangräume entwickelte Rau-Čulo nicht nur hier, sondern auch im „Choral h-Moll“ von César Franck. Sie spielte voller Verve die „Toccata in F-Dur aus der 5. Symphonie f-Moll“ von Charles-Marie Widor (1844–1937) und spannte gekonnt einen großen Bogen über die treibenden Sechzehntelmotive bis hin zum triumphalen furiosen Schlussakkord.
Die dritte Stunde wurde sinnstiftend bestimmt von der Vorstellung der Komplet, dem letzten Stundengebet des Tages, das Michael Čulo in Jeanne Demessieux’ (1921–1968) „In manus tuas – Litanei“ erklingen ließ. Die Komponistin – sie könnte dieses Jahr ihren 90. Geburtstag feiern – entwickelt litaneiartig das Nachtgebet: „In deine Hände lege ich voll Vertrauen meinen Geist.“ Čulo gestaltete diese letzte Stunde mit „Cortège et Litanie“ von Dupré und Alains „Postludium pour l’office des complies“ (Nachspiel für das letzte Stundengebet des Tages), in meditativer, subtiler Eindringlichkeit. Der reiche Beifall nach jeder Stunde zeigte, dass das Publikum von dieser Orgelnacht begeistert war.
Quelle: NTZ 31.10.2011