Nürtinger Orgeltage I – Eröffnungskonzert

Die Nürtinger Orgeltage 2010 starteten am 3. Oktober um 17 Uhr mit einem Konzert für Chor und Orgel in der Nürtinger Stadtkirche St. Laurentius. Auf dem Programm waren Werke von Felix Mendelssohn-Bartholdy, Robert Schumann und Johannes Brahms. Im Zentrum des Konzerts stand die Missa sacra op. 147 – Schumanns erstes Werk mit lateinischem Text, das innerhalb weniger Wochen im Februar und März 1852 entstanden ist. Obwohl es offensichtlich für den Konzertsaal konzipiert war, wurde es am 3. März 1853 unter Schumanns Leitung in einem Düsseldorfer Abonnementkonzert nur fragmentarisch uraufgeführt.

Nicht nur die beiden Rahmenteile „Kyrie eleison“ und „Agnus Dei“, sondern auch das „Credo“ sind reine Chorsätze. Dazu bildet das ins Messordinarium eingeschobene „Tota pulchra es“, das in der originalen Instrumentierung nur von Violoncello und Orgel begleitet wird, ein reizvolles Gegenstück. Schumann selbst hat eine Gesamtaufführung seiner einzigen Messe nicht mehr erlebt; das Werk wurde zu seinen Lebzeiten auch nicht veröffentlicht. Im Sommer 1860 fasste Clara den Plan, Messe und Requiem einem Verleger anzubieten und bat Johannes Brahms um eine kritische Begutachtung der Partituren. Obwohl sein Urteil wenig günstig ausfiel, befürwortete er ein Erscheinen der beiden Werke. Clara berichtete 1861 nach einer Aufführung der Messe in Aachen: „Meine Reise nach Aachen hat mich nicht gereut, und ich habe an der Messe, Kyrie, Sanctus und Agnus Dei große Freude gehabt. Du glaubst nicht, wie schön das alles klingt. Tief ergreifend ist das Kyrie und wie aus einem Gusse, im Sanctus einzelne Sätze von so wundervoller Klangwirkung, dass es einem kalt über den Rücken rieselt. … Ich habe natürlich keine Bedenken mehr, es drucken zu lassen – …“ 

Die Nürtinger Kantorei musizierte zusammen mit der Reutlinger Sopranistin Ulrike Härter. Den Orgelpart und die Leitung am Dirigentenpult teilten sich die beiden Nürtinger Bezirkskantoren Angelika Rau-Čulo und Michael Čulo.

Musik als überirdische Kunst religiösen Ursprungs

Chor und Solisten sorgten am Sonntag für einen großartigen Beginn der Nürtinger Orgeltage. Foto: Erika Kern

Leidenschaft und Andacht: Eröffnungskonzert der ökumenischen Nürtinger Orgeltage

 

VON HELMUTH KERN

 

NÜRTINGEN. In der sehr gut besuchten Nürtinger Stadtkirche St. Laurentius wurden am Abend des Erntedankfestes die ökumenischen Orgeltage 2010 eröffnet. Das bemerkenswerte Konzert am Sonntagabend stand im Zeichen des 200. Geburtstags von Robert Schumann. Den Mittelpunkt bildete die weithin unbekannte und zu seiner Zeit fast unverstandene, gleichwohl zukunftsweisende „Missa sacra“ in c-Moll, op. 147 aus dem Jahr 1853. Drei Jahre vor seinem Tod entstanden, ist sie ein ergreifendes Alterswerk des protestantischen Künstlers, dessen Aufführung er nicht mehr erlebte; dazu vier Geistliche Lieder der Freunde Felix Mendelssohn-Bartholdy und Johannes Brahms.

 

Dieses Konzert der Nürtinger Kantorei unter der sensiblen Leitung der beiden Bezirkskantoren Angelika Rau-Čulo und Michael Čulo bot zugleich einen exemplarischen Einblick in die Musik der Romantik um die Mitte des 19. Jahrhunderts – einer Musik voller Sehnsucht nach Individualität, Transzendenz und Ursprünglichkeit, nach Geborgensein und Aufgehobensein in einer als zukunftsweisend verstandenen Musiktradition des Johann Sebastian Bach, mit dem sich Mendelssohn, Schumann und Brahms gleichermaßen befassten.

 

Zugleich wurde der Fokus auf eine Zeit hoffnungsvoller politischer Veränderungen um 1848 gerichtet. Das gab diesem Konzert zufallsbedingt einen hochaktuellen und spannenden Kontext am 20. Jahrestag der Deutschen Einheit.

 

Auch aus einem anderen Grunde ist für die Ausführenden und die Leitenden das Konzert zu einem spannenden Vorhaben geworden: Seit 12 Uhr mittags wusste die Solistin des Abends, die junge, vielfach ausgezeichnete Sopranistin Ulrike Kristina Härter, dass sie den Part der kurzfristig erkrankten Silke Kaiser übernehmen würde, hoch oben auf der Orgelempore. Dort stand diesmal auch der Chor vor der mächtigen Goll-Orgel, die damit auch optisch gleichsam zu einer klangfarbenreichen, vielstimmigen „Sängerin“ in einem kraftvollen und eindrücklichen, homogenen Chorklang wurde.

 

Mit Ulrike Kristina Härter, deren heller, klarer tragender und intonationsreiner Sopran sich in den oberen Lagen besonders volumenreich entfaltete, war eine mutige Kollegin gewonnen worden; denn außer Felix Mendelssohn-Bartholdys Hymne nach Psalm 55, „Hör mein Bitten“ komponiert 1844, gehörte keines der aufgeführten Werke zu ihrem Repertoire. Gleichsam als Präludium erklang diese ausdrucksstarke Hymne für Solo, Chor und Orgel: romantische Kantilenen, dramatische chromatische Brechungen und rezitativähnliche Linienführungen im Solo-Sopran, rasche Wechsel zwischen Sopran-Solo und Chor und Anverwandlungen Bachscher Kompositionsstrukturen schildern hier die verzagte Seele eines Betenden im Kampf mit dem übermächtigen Heer der Feinde, der in die Bitte um Gottes Beistand mündet.

 

In lateinischer Sprache folgten dann die beiden ersten Teile der „Missa sacra“ in der erst vor wenigen Jahren entdeckten Orgelfassung. Dass sich Schumann seit 1845 intensiv mit Bachs Werk auseinandergesetzt hat, wird hier deutlich. Diese „zum Gottesdienst wie zum Concertberauch geeignete Musik“ (Schumann), eine gefühls- und stimmungsgeladene, dramatische Komposition, zählt heute zu den großen Meisterwerken geistlicher Musik des 19. Jahrhunderts. 1851 schreibt Schumann: „Der geistlichen Musik die Kraft zuzuwenden, bleibt ja wohl das höchste Ziel der Künstler.“ Musik ist für ihn eine überirdische Kunst religiösen Ursprungs. Die Bitte um das Erbarmen im „Kyrie“ in elegischer Zurückhaltung, feinsinnig an der Orgel registriert und von der Kantorei interpretiert, wird kontrastiert durch das „Gloria“, in dem Preis, Ruhm und Dank jubelnd hervorbrechen.

 

Fugierte Passagen, an barocke Strukturen erinnernd, immer wieder gebrochene und nicht leicht zu bewältigende Harmonik im Chor sowie die kurzen Passagen des glockenreinen und zupackenden Soprans prägen diese imposanten beiden Teile. Dann: gleichsam retardierende, protestantische Reflexion, das 1835 komponierte Geistliche Lied, op. 112, 1 nach Psalm 25, 8 von Mendelssohn-Bartholdy für Solostimme und Orgel, ehe mit dem spannungsgeladenen Credo die Missa fortgesetzt wurde.

 

Diesem folgte der von Michael Čulo eingangs erwähnte „katholische Teil“, das „Offertorium“ (1854 zugefügt): ein Lobpreis Mariens für Solosopran, sensibel registriert und begleitet von der Bezirkskantorin. Im getragenen „Sanctus“ mit seiner andachtsvollen Stimmung hat Schumann das „O salutaris hostie“ aus dem Fronleichnams-Hymnus der katholischen Liturgie als kontrastierenden Teil angefügt. Es mündete in ein apotheosegleiches Amen. Das verhaltene „Agnus Dei“ mit seiner Bitte um Erbarmen und Frieden schloss eindrücklich den großen inhaltlichen und musikalischen Bogen.

 

Zwei kleinere Werke bildeten gleichsam das Postludium: „Der du die Menschen lässest sterben“ (Psalm 90, 3, 5) von Mendelssohn-Bartholdy aus dem Jahr 1838 für Solostimme und Orgel und das bekannte „Geistliche Lied“, op. 30, von Brahms „Lass dich nur nichts nicht dauren“, entstanden im Frühjahr 1856, kurz vor Schumanns Tod. Dieses choralhafte Werk mit dem tröstlichen Text des barocken Lyrikers Paul Fleming beschloss das Konzert. Es war eine bemerkenswerte Leistung aller Ausführenden und ein großartiger Beginn der Orgeltage hier in Nürtingen. Groß war der Beifall des Publikums.

Quelle: NTZ 05.10.2010

Nürtinger Orgeltage II

Das zweite Konzert im Rahmen der Nürtinger Orgeltage 2010 fand am Sonntag, 10. Oktober um 17 Uhr in der katholischen Kirche St. Johannes statt. Zu Gast war Prof. Bernhard Haas aus Stuttgart, ein international renommierter und mit zahlreichen Preisen ausgezeichneter Organist. Er spielte auf der Albiez-Orgel ein abwechslungs- und facettenreiches Programm mit Werken von Dietrich Buxtehude, Georg Friedrich Händel, Johann Sebastian Bach und den beiden zeitgenössischen Komponisten Johannes Fritsch und Isang Yun.

Vielfältige Klangfarben erfüllten die Kirche

Räumte der Moderne viel Raum ein: Professor Haas bei den Orgeltagen in Nürtingen. Foto: Römer

Mit einem facettenreichen Konzert zog Professor Bernhard Haas bei den Orgeltagen das Publikum in seinen Bann


VON SUSANNE RÖMER

NÜRTINGEN. Trotz des goldenen Oktoberwetters haben am Sonntagnachmittag etliche Interessierte den Weg zum Orgelkonzert in die katholische Kirche St. Johannes angetreten und wurden mit einem eindrucksvollen Klangerlebnis belohnt: der renommierte Stuttgarter Organist Professor Bernhard Haas stattete das zweite Konzert im Rahmen der Nürtinger Orgeltage mit einem abwechslungsreichen Programm aus und versetzte die Anwesenden durch sein ebenso technisch wie interpretatorisch versiertes Orgelspiel in Begeisterung.

Sein ungewöhnliches Repertoire umfasste sowohl klassische Kompositionen von Georg Friedrich Händel, Johann Sebastian Bach und Friedrich Buxtehude als auch zeitgenössische Stücke von Johannes Fritsch und Isang Yun mit so manchem Überraschungseffekt. Zum Auftakt der Veranstaltung begrüßte Kantor Andreas Merkelbach die Zuhörer und versäumte nicht darauf hinzuweisen, dass die zu Gehör kommenden zeitgenössischen Stücke nicht nur als Sammelsurium merkwürdiger Geräusche, sondern durchaus als Musik interpretiert werden könnten, was für einen Anflug von Heiterkeit im Raum sorgte.

 

Professor Haas fügte dem einige erklärende Worte hinzu: Fritsch habe sich von Roms Ruinen inspirieren lassen und eine musikalische Landschaft von Objekten erschaffen, in der aber genügend Platz für stille Passagen enthalten sei. Yun wiederum sei als Mittler zwischen Ost und West zu verstehen und verbinde die europäische Kompositionsweise mit traditionellen Elementen koreanischer Musik.

 

Zunächst jedoch durften die Zuhörer das Praeludium BuxWV 153 in a-Moll, eines der zahlreichen klassischen Orgelwerke Dietrich Buxtehudes, genießen. Mit viel Gefühl und weichem Anschlag zauberte Professor Haas die schönen Läufe und die glockenklare Melodie auf die Tasten der Albiez-Orgel und lud die Anwesenden zum Träumen ein. Ein kleines Trällern kündigte das Ende der Passage an und schwere Akkorde bildeten die Überleitung zum monumentalen Teil, in dem der Professor mit wirr klingenden Tonfolgen seine unglaubliche Fingerfertigkeit unter Beweis stellte. Schnelle Akkorde simulierten zum Schluss eine gehetzte und rastlose Stimmung bis hin zum emotional geladenen, fulminanten Finale.

 

Im Anschluss daran konnte man sich selbst ein Bild der Stilrichtung, auf die Merkelbach das Publikum vorsichtshalber vorbereitet hatte, machen. Eine Abfolge von schrägen Tönen, teilweise fast krächzend, dumpf polternd oder gurgelnd, leitete die moderne Komposition „IX ’99 X“ von Johannes Fritsch ein und erzeugte akustisch eine verfrühte Geisterstunde. Lange, raumfüllende Akkorde und surrende Tonfolgen wurden abgelöst durch einen hektischen, klirrenden Lauf, der wie ein Schwarm aus gläsernen Bienen über die Köpfe der Anwesenden schwirrte, bis er durch abrupte Stille unterbrochen wurde.

 

Schrille Pfeiftöne erweckten den Eindruck eines ankommenden Ufos oder eines offenbar verrückt gewordenen Vögelchens, bis lang gezogene einzelne Töne und ein heiseres Brummen zum Ende führten. Nach einer Melodie suchte man hier vergebens, doch Haas’ meisterhafte Interpretation von Klangfarben und Tonhöhen sowie seine Differenzierungen in Tempo und Dynamik ließen keine Wünsche offen und verdeutlichten, dass er buchstäblich sämtliche Register zog.

 

Zur Abwechslung, oder Erholung, stimmte Haas mit leichter Hand die Triosonate BWV 526 von Johann Sebastian Bach in c-Moll an, die mit dem menuettartigen Vivace eingeleitet wurde. Im unaufhaltsam wirkenden Fluss der fröhlichen Melodie wischte der Professor die Schwere des vorangegangenen Stückes förmlich hinweg, zog das Publikum jedoch mit dem anschließenden langsamen und getragenen Largo der Oboe in einen Strudel der Melancholie, dem er es durch die locker und rasant gespielten abfallenden und aufsteigenden Tonfolgen des Allegro wieder entriss.

 

Ein Didgeridoo schien das nächste Stück von Isang Yun anzukündigen. Ein bombastischer, düsterer, fast schon bedrohlich anmutender Klang und eine Mixtur aus schrillen, teils xylophonähnlichen Tönen beherrschten den Raum, kombiniert mit der Illusion von Holzblasinstrumenten. Zum Finale schlug der Professor energisch in die Tasten, und ein Pfeifton, der jeden noch so pathologischen Tinnitus in den Schatten stellte, führte zum Schlusspunkt.

 

Zu guter Letzt trumpfte der Professor mit Händels Orgelkonzert op. 7,3 in B-Dur auf, das er in seiner Fassung für nur eine Orgel zu Gehör brachte, wobei er durch den Wechsel der Manuale kein Orchester vermissen ließ. Das Andante arbeitete der Professor mit gemäßigter Agilität heraus und machte anschließend durch traurige Akkorde ein Fagott hörbar, bis fröhliche, helle Läufe der Freudlosigkeit zu entfliehen schienen und muntere Akkorde förmlich das Bild eines durch den Wald hüpfenden Rehkitzes zeichneten. Temperamentvoll ging das Konzert auch zu Ende – mit dem rauschenden Applaus des Publikums für einen großartigen Künstler.

Quelle: NTZ 12.10.2010

seLiG im Gottesdienst

Sonntag, 17. Oktober 2010, 10.15 Uhr

20. Sonntag nach Trinitatis

Angelika Rau-Čulo, Leitung

Nürtinger Orgeltage III

Das dritte Orgelkonzert der Nürtinger Orgeltage 2010 fand am Sonntag, 17. Oktober um 17 Uhr in der Stadtkirche St. Laurentius statt. Zu Gast ist Thomas Schäfer-Winter aus Salzburg. 

Schäfer-Winter war nach seinem Kirchenmusikstudium an der Folkwang-Hochschule in Essen viele Jahre Bezirkskantor in Mössingen und Stuttgart-Bad Canstatt und Kirchenmusiker an St. Petri in Kopenhagen. Seit 1992 hat er außerdem einen Lehrauftrag für künstlerisches Orgelspiel an der Hochschule für Kirchenmusik in Tübingen inne (Thomas Schäfer-Winter war viele Jahre lang der Orgeldozent der beiden Nürtinger Bezirkskantoren A. Rau-Čulo und M. Čulo). In Nürtingen wartete Schäfer-Winter mit einem reinen Schumann-Programm auf – eine Hommage an den Komponisten zu dessen 200. Geburtstag. Das komplette Orgelwerk von Schumann in einem Konzert: ein facettenreicher und farbiger Hörgenuss erwartete die Besucher mit Stücken, die sich wunderbar auf der Nürtinger Goll-Orgel darstellen lassen.

Reverenz an den Leipziger Übervater

Ein Könner an den Tasten: Thomas Schäfer-Winter spielt auf der Goll-Orgel. Foto: pm

Thomas Schäfer-Winter beeindruckte beim dritten Konzert der Nürtinger Orgeltage mit Schumanns komplettem Orgelwerk

 

VON ECKHARD FINCKH

 

NÜRTINGEN. Gedenkjahre sind manchmal sinnvoll. Das bewies das dritte Konzert der aktuellen Nürtinger Orgeltage. In der Stadtkirche nahm am Sonntag ein zahlreich erschienenes Publikum die Gelegenheit wahr, mit einer faszinierenden Hommage an Robert Schumann in eine wenig bekannte Welt des 200-jährigen Jubilars einzutreten. Der aus Süddeutschland stammende, inzwischen in Salzburg wohnende Organist und Orgeldozent Thomas Schäfer-Winter hatte sich nicht weniger vorgenommen, als alle überlieferten Orgelwerke des Komponisten zu präsentieren.

 

Über Schumann und sein bewegtes Leben kann man derzeit viel lesen. Dass er nicht nur der lyrisch-poetische Liederkomponist und der engagierte Herausgeber der „Neuen Zeitschrift für Musik“ war, dass er auch von Leidenschaften und Schaffenswut hingerissen, von Alkoholexzessen geplagt, von beruflichen Sorgen umgetrieben wurde, das kommt mehr und mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Seine Orgelstücke entstanden nach einem physischen und nervlichen Zusammenbruch nach Russlandtournee und riesigen Kompositionsprojekten im Bereich Oper und Oratorium im Jahre 1844. Er siedelte von Leipzig nach Dresden um, betrieb verstärkt kontrapunktische Studien, unterrichtete darin auch seine Frau Clara und begann – geradezu therapeutisch – für Orgel zu komponieren. Die Ergebnisse dieser Arbeit, von der Schumann selbst sehr viel hielt („eine Arbeit, von der ich glaube, dass sie meine anderen vielleicht am längsten überleben wird“) bildeten die Basis für Schäfer-Winters Konzert.

 

Facettenreiche Entdeckungsreise

 

Die Reihenfolge der Darbietung glich den Schalen einer Zwiebel. In der Mitte standen die „Skizzen für den Pedalflügel op. 58“. Diese wurden umschlossen von den kanonischen „Studien für den Pedalflügel, op. 56“. Und gleichsam als äußeres Band erklangen am Anfang und am Ende des Konzerts je drei der „Sechs Fugen über den Namen BACH, op. 60“. Das ergab eine facettenreiche Entdeckungsreise mit Abwechslungen und Rückblicken.

 

Als Meisterwerk erwies sich gleich die erste Fuge über die bekannte Tonfolge B-A-C-H. In Reverenz an den Leipziger „Übervater“ erklang das Motiv zuerst in gedecktem Klangbild, entwickelte sich organisch wachsend zu größerer Breite, schnellerem Tempo, großer Fülle, überraschenden musikalischen Dimensionen. Die zweite Fuge war im Kontrast dann motorisch angelegt, verlangte Fingerfertigkeit, während die dritte („Mit sanften Stimmen“) mit ihren Steigerungen von der Ruhe in emotionale Ausbrüche umschlug.

 

Bei den darauffolgenden „Pedalflügel-Studien“ nahm Nr. 2 („Mit innigem Ausdruck“) das Publikum gefangen. Ein Trauermarsch beschwor romantische Bilder herauf, die Orgel intonierte eine chansonartige Melodie, die zum Ohrwurm taugte. Landschaft und Ferne tat sich auf.

 

Die im Zentrum des Konzerts stehenden vier „Skizzen op. 58“ begannen mit Klangexperimenten und markanten Rhythmen. Im dritten Satz entstand ein stürmisch vorwärtsdrängender Seelenzustand, unheimliche Intervalle unterstützten die Stimmung. Fast visionär der Mittelteil des Satzes, mit schummrigen Mischklängen registriert, aufsteigende Linien, als ob man im Nebel auf der Suche wäre. Ein „Allegretto“ schloss die „Skizzen“ ab, überraschend anders, entspannt, mit tänzerischen Ansätzen. Der allen vier Sätzen unterlegte Dreiviertel-Rhythmus trat in den Vordergrund.

 

Die weiteren drei „Studien“ stellten lyrischen Gesang und Dramatik nebeneinander, ließen märchenhafte Welten mit tanzenden Figuren entstehen und mündeten in ein „Adagio“, das plötzlich spirituelle Bereiche ansprach, das wie ein meditatives Innehalten wirkte, das Romantik und Religion in zarten Klangfarben verband, das Zeit und Raum vergessen machte.

 

Hatte man jetzt einen Querschnitt durch Schumanns vielfältige musikalische, emotionale, vielleicht auch literarische Vorstellungen erlebt, so führte der letzte Programmblock wieder zum Konzertanfang zurück. Aus der Tradition kommende kontrapunktische Verfahren bestimmten die bewundernswerte Machart der weiteren drei Fugen aus op. 60. Zum BACH-Motiv gesellte sich in Fuge vier das Motiv in Krebsgestalt (HCAB), die Fuge fünf bezog sich mit ihrem 6/8-Takt auf ihre barocken Wurzeln in der Gigue, und die abschließende Doppelfuge steigerte die Gestaltungsmittel in symphonische Bereiche hinein, sodass ein wahrhaft triumphales Finale erklang.

 

Lang anhaltender Beifall für Thomas Schäfer-Winter, der die Goll-Orgel der Stadtkirche teils virtuos, teils mit beseeltem Ausdruck spielte und mit ihren Registern die unterschiedlichsten Klangfarben herbeizauberte. Im Beifall schwang auch der Dank für ein großartiges Programm mit, das den Jubilar Schumann von neuer Seite zeigte.

Quelle: NTZ 19.10.2010

Nürtinger Orgeltage IV

Das vierte Orgelkonzert der Nürtinger Orgeltage 2010 fand am Sonntag, 24. Oktober um 17 Uhr in der katholischen Kirche St. Johannes statt. Zu Gast war der französische Organist Baptiste-Florian Marle-Ouvrard. Marle-Ouvrard ist Titularorganist der Kirche St-Vincent-de-Paul de Clichy-la-Garenne. Er ist Preisträger zahlreicher internationaler Wettbewerbe, darunter des prestigeträchtigen Grand Prix de Chartres und konzertiert regelmäßig in ganz Europa. Er unterrichtet Improvisation am Konservatorium von Viry-Châtillon (Essonne). 2007 wurde sein Oratorium Arche de Noé für Chor, Orchester und Orgel unter seiner Leitung uraufgeführt. 

Hier in Nürtingen wartete er mit einem virtuosen Programm auf – ein Hörgenuss der ganz besonderen Art!

Zwischen klassischem Stil und Improvisation

Nürtinger Orgeltage: Der französische Starorganist Baptiste-Florian Marle-Ouvrard brillierte mit eigenen und klassischen Werken

 

VON ECKHARD FINCKH

 

NÜRTINGEN. Die Johanneskirche war am Sonntag Schauplatz des vierten Konzerts der diesjährigen Orgeltage. Die Besucher erlebten den 28-jährigen französischen Organisten und Komponisten Baptiste-Florian Marle-Ouvrard, einen Vollblutmusiker, der in seinem Heimatland schon zahlreiche nationale und internationale Preise im Bereich der Interpretation und Improvisation errungen hat. Dazu gehören auch Publikumspreise, zuletzt in Luxemburg und Leipzig. Bei seinem Nürtinger Auftritt bot er vier seiner Werke. Kompositionen von Bach, Mozart, Mendelssohn und Reger wurden im Programm dazwischengeschoben.

 

Seine „Suite française“ im klassischen Stil zeigte zu Beginn seine musikalische Position. Die fünf Sätze orientierten sich formal und tonal am großen Schatz der traditionellen Kirchenmusik, überraschten aber gleichzeitig durch den Reiz des Unverbrauchten, Spontanen. Historisches Material wurde kreativ weitergeführt. Man hörte ein Vorspiel mit differenzierter Klangschichtung und barock verzierter Melodieführung, darauf eine durchsichtig registrierte Fuge, eine zweistimmige Spielerei von Bass und Sopran, eine rezitatorische „Klangrede“ als Dialog, ein pompöses, lautstarkes Finale, das Festlichkeit ausstrahlte.

 

Mit dem anschließenden „Concerto a-Moll“ BWV 593 begegnete man dem „italienischen“ Bach. Dessen Begeisterung für die von Vivaldi gepflegte Konzertform schlug sich in dieser Transkription für Orgel nieder, entstanden zu Beginn seiner Weimarer Zeit. Der Orgelvirtuose Marle-Ouvrard stürzte sich mit Lust in die Motorik der drei Sätze, ließ die markante Bass-Figur im Adagio schön hervortreten, arbeitete im Allegro das konzertierende Prinzip von Tutti und Solo so plastisch heraus, dass man meinte, hinter der Albeniz-Orgel ein Orchester zu hören.

 

Nach seinem eigenen Tribut an Johann Sebastian Bach („Präludium und Fuge“) präsentierte Marle-Ouvrard die „Fantasie f-Moll für eine Orgelwalze“ KV 608 von Mozart in einer äußerst eigenwilligen Interpretation. Gigantische Klangmassen führten zur strengen Fuge hin, ein Eindruck, den die Zuhörer schwerlich mit ihrer Vorstellung von Mozart verbanden. Erst in dem in sanften Flötentönen daherkommenden Andante ergab sich eine historische Perspektive auf spielerisches Rokoko. Doch dieser Eindruck wurde vom Furioso der expressiv gespielten Fuge schnell wieder weggeblasen. Mozart als junger Wilder?

 

Neben improvisierender Aufnahme barocker Strukturen zeigte der Orgelkünstler, dass er im Kontrast dazu auch ein romantisches Tongemälde schaffen kann. In seinem „Symphonischen Gedicht“ versah er liedhafte Melodien mit orchestralen Einwürfen oder ließ Geister im Staccato vorbeihuschen, gleichsam in einem tastentechnischen Bravourstück. Nachdem er das Klangvolumen fast bis zur Schmerzgrenze anschwellen ließ, gab es ein Innehalten mit den melancholischen Tönen eines Englischhorns, und eh man sich’s versah, war der Spuk plötzlich vorüber.

 

Spätromantik war mit Max Reger angesagt. Nach der massiven Introduktion erklang die ostinate Basslinie, auf der sich die Passacaglia entwickeln konnte. Kunstvolle Variationen, deren Motive sich immer mehr aufsplitterten, um in der größtmöglichen Klanggeste zu enden.

 

In der das Programm abschließenden „Improvisation“ ging Baptiste-Florian Marle-Ouvrard nochmals einen Schritt in der musikgeschichtlichen Entwicklung weiter. Flöten suggerierten eine archaische Stimmung der Frühe, die immer bewegter wurde. Impressionismus in der Art Debussys bestimmte das Geschehen. Wieder wurde das volle Volumenvermögen des Instruments vorgeführt. Wechsel der musikalischen Mittel führten in die rhythmische Kleinteiligkeit eines Strawinsky, sensitive Register ließen indonesische Gamelan-Klänge ertönen. Mit enormer Erregungssteigerung in entsprechender Lautstärke ging auch diese Improvisation zu Ende.

 

Die phänomenale Leistung des französischen Gastes, sowohl instrumententechnisch als auch im Durchwandern der unterschiedlichsten Ausdrucksbereiche, wurde mit viel Beifall honoriert. Bereitwillig setzte er sich noch für eine Zugabe auf die Orgelbank. Es erklang eine verblüffende musikalische Bildfolge, die schalkhaft Anleihen bei Mendelssohns Kobolden oder bei den Tieren von Saint-Saëns machte – einfach brillant.

Quelle: NTZ 26.10.2010

Nürtinger Orgeltage V – Orgelnacht

Am Samstag, 30. Oktober 2010 fand ab 20 Uhr die traditionelle Orgelnacht als Abschluss der VI. Nürtinger Orgeltage in der katholischen Kirche St. Johannes statt. Die drei Konzerte begannen jeweils zur vollen Stunde: um 20 Uhr eröffnete Bezirkskantor Michael Čulo die Orgelnacht, das Konzert um 21 Uhr gestaltete Kantor Andreas P. Merkelbach und das Abschlusskonzert um 22 Uhr spielte Bezirkskantorin Angelika Rau-Čulo. Die Programm dauerten ca. 40 Minuten; in den Pausen konnten sich die ZuhörerInnen im benachbarten Gemeindehaus mit Häppchen und einem Gläschen Sekt stärken.

Es ist wie ein Lauschen nach innen

Mit der Orgelnacht fanden die Orgeltage ihr Ende – Guter Besuch

 

VON GÜNTER SCHMITT

 

NÜRTINGEN. Die Musik ist die emotionalste und gleichzeitig die flüchtigste aller Künste. Kaum ist ein Ton angeschlagen, ist er auch schon vorüber. Es wäre zum Verzweifeln, wenn es nicht das Tröstliche gäbe, sie von Neuem hören zu können. So war es auch am Samstag in der katholischen Johanneskirche bei der gut besuchten Orgelnacht, dem Schlusspunkt der Orgelwoche. Das Programm bot Bekanntes und weniger Bekanntes. Gestaltet wurde das Konzert von den drei hauptamtlichen Organisten der Stadt, von Michael Čulo, Andreas Merkelbach und Angelika Rau-Čulo.

 

Das Programm war in drei Blöcke gegliedert, jeweils gestaltet von einem der Organisten. Zum 20. Todestag von Karl Böbel, dem langjährigen Kantor an der Stadtkirche, spielte Michael Čulo, neben einigen weiteren Kompositionen, zwei Werke des Nürtinger Kirchenmusikers, ein Orgel-Tryptichon und eine Choralphantasie.

 

Die zwei Werke haben über Strecken einen betont meditativen Charakter, hin und wieder verbunden mit einem innigen Gruß an Hugo Distler. Zuweilen erinnern die dichten Klanggebilde an einen Wandteppich mit rätselvollen geometrischen Mustern. Die Choralphantasie endet mit einem so mächtig wie beharrlich durch die Kirche brausenden Ostinato.

 

Seelenspiegelbilder eines Komponisten

 

Das Spiel von Michael Čulo zeichnete sich durch eine große Transparenz aus, jede Phrase wurde plastisch modelliert und zum Leuchten gebracht, auch in den schnellen Läufen, in denen sich die einzelnen Töne zu atmenden, fließenden Linien fügen. In den langsamen Abschnitten betonte der Organist die verschatteten Klänge, Seelenspiegelbilder eines Komponisten, dem das Dunkel des Menschseins nicht unbekannt war. Karl Böbel, der Kantor, starb am Todestag des Thomaskantors Johann Sebastian Bach, von Böbel verstanden und verehrt als musikalischer Übervater und Zentralgestirn am Himmel der Komponisten.

 

Es ist schon merkwürdig, dass die Orgel nach Deutschland kam über Byzanz, ein Reich zutiefst griechisch-orthodoxen Charakters, das in seinen Gotteshäusern keine Orgel kannte. Wozu das mächtige Instrument in der Lage ist, demonstrierte Andreas Merkelbach vor allem anhand einer Komposition von Franz Liszt.

 

Was dem Werk mitunter an thematischer Prägnanz mangeln mag, ersetzt es durch mächtig einherrollende Klangwogen. Der Organist spielte es als das fulminante und furiose Stück Musik, das es ist, mitsamt seinen dräuenden Ausbrüchen und Tonballungen, die sich entwickeln, wenn der Organist mit vollen Händen in die Tasten greift.

 

Mächtig einherrollende Klangwogen

Mit virtuosem Zugriff und, wo notwendig, durchaus auch gebändigter Emphase ließ Andreas Merkelbach die mitunter jähen Stimmungswechsel zur Geltung kommen. Vor allem in den Kompositionen der Barockmeister Nicolas de Grigny und Johann Gottfried Walther zwang er die Musik nicht in die Subjektivität eines Schemas, sondern ließ sie aus ihrem eigenen Duktus heraus atmen und gab ihr bei aller Komplexität jene Durchsichtigkeit, vor der sich wie von selbst die Struktur abzeichnet. Vor allem in der Komposition von Walther überrascht die Nähe zu Bach. In immer neuen Anläufen wird das Grundmuster erweitert und lässt so die Komposition in fortschreitendem Verlauf in neuem und anderen Licht erscheinen.

 

Andreas Merkelbach nannte in seinen Grußworten die Orgelwoche sehr erfolgreich. Aber wie in keiner Veranstaltung sonst kann sich in einer Orgelnacht eine ganz eigene und unverwechselbare Stimmung entwickeln. Die Dunkelheit, die sich draußen über die Dächer der Stadt gesenkt hat, die gedämpften Lichter in der Kirche, die großen Leuchter mit Kerzen auf dem Altar, das silbrige Lispeln der Orgel, wenn die Musik atmet und Luft holt, um einen neuen Anlauf zu nehmen – die Zeit steht still und man hört nach innen. Es ist eine Magie, die nur die Kunst heraufbeschwören kann. Alles wird möglich. Für den rumänischen Philosophen Emil Cioran gab es nur einen konkreten Beweis für die Existenz Gottes: die Musik von Johann Sebastian Bach.

 

Angelika Rau-Čulo mit reinem Bach-Programm

 

Mit einem reinen Bach-Programm beschloss Angelika Rau-Čulo die Orgelnacht. Sie vermaß noch einmal das Terrain und steckte die Möglichkeiten ab. Ihr Spiel ist mathematisch gerade, dabei weich ausbalanciert, immer um die Struktur des großen Ganzen wissend, die tragende Konstruktion, an der die Verzierungen aufgehängt sind. Sie verbiegt nichts und sie trumpft nicht auf, sie lässt die Musik fließen und gibt ihr eine logische Flexibilität, als könne man sie überhaupt nicht anders spielen.

 

Die Technik ist ihr so selbstverständlich, dass sie sich nur mit der Musik beschäftigen kann. Leichthändig und doch mit großer Intensität gab sie zum Abschluss der Veranstaltungsreihe der farbenreichen und rhythmisch prägnanten Fantasie und Fuge BWV 542 Form und Gestalt, bis hin in die letzten Takte der dramatisch bewegten Fuge.

 

Die weitaus meisten Besucher waren bis zuletzt geblieben. Sie hatten eine Orgelnacht auf hohem Niveau erlebt. Der Beifall ließ keine Müdigkeit oder Überforderung erkennen. Es war ein schöner Abend, bei aller Länge, die einer Orgelnacht naturgemäß eigen ist.

Quelle: NTZ 02.11.2010