Karfreitagsmusik der Nürtinger Kantorei

„Das Leiden unsers Herren Jesu Christi…“, so lautete der Titel der traditionellen Musik zur Grablegung Christi an Karfreitag, 6. April 2012 um 18 Uhr in der Stadtkirche St. Laurentius. Im Zentrum des Konzerts stand die Aufführung der Johannespassion von Heinrich Schütz. Seine Passionen gehören zu den schönsten Schöpfungen überhaupt. Gerade durch die fehlende (instrumentale) Begleitung erzielt Schütz eine unübertroffene Balance zwischen Text und Musik. Er legt stets großen Wert auf eine klare, von der Sprache geprägte Deklamation und ein hohes Maß an Textverständlichkeit. Ein Aspekt, der auch in der Beziehung zu Hugo Distler, dessen Motette „Fürwahr, er trug unsere Krankheit“ ebenfalls auf dem Programm stand, sicht- und hörbar wird. Die Chorwerke wurden gegliedert durch Teile aus Marcel Duprés Kreuzweg für Orgel. Neben der Nürtinger Kantorei waren als Solisten Hubert Mayer (Solist beim SWR Vokalensemble), Kai Preußker (Solist an der Stuttgarter Staatsoper), verschiedene Chorsolisten und Angelika Rau-Čulo an der Orgel zu hören. Die Leitung hatte Bezirkskantor Michael Čulo.

Ein anrührendes Konzert zum Karfreitag

Die Nürtinger Kantorei überzeugte mit beeindruckender Intensität. Foto: Kern

„Musik zur Grablegung Christi“ in der Nürtinger Stadtkirche

 

VON HELMUTH KERN

 

NÜRTINGEN. Unter der Leitung von Michael Čulo erklangen am Karfreitagabend in der vollbesetzten Kirche A-cappella-Werke von Hugo Distler und Heinrich Schütz sowie Teile aus Marcel Duprés „Le Chemin de la Croix“ (Der Kreuzweg) für Orgel, gespielt von Angelika Rau-Čulo. Was hier die Nürtinger Kantorei als Laienchor bot, war beachtlich: Im diffizilen Bereich des A-cappella-Singens sind die Stimmen auf sich gestellt und ist die musikalische Gestaltung der Wort-Ton-Setzung von tragender Bedeutung. Es war ein anrührendes Musizieren zur Erinnerung der Passion.

 

Sehr stringent war diese „Musik zur Grablegung Christi“ in der Wahl der Werke und der Abfolge im Programm. Die machtvolle Botschaft des Karfreitagsgeschehens wurde aus vier Blickrichtungen lebendig. Das Titelbild des Programmheftes zeigte die „Kreuztragung“ aus der „Grauen Passion“ von Hans Holbein d. Ä., wohl um 1500 gemalt. Brutale Schergen schlagen zu, zerren und stoßen, ein mitfühlender bärtiger Simon aus Cyrene hilft das Kreuz tragen, und in der Mitte eine im turbulenten Geschehen auffallende, demütig wirkende Gestalt, durch einen feinen Strahlennimbus als Jesus gekennzeichnet. Aus dem Blickwinkel eines Komponisten des 20. Jahrhunderts wurde diese Szene in der „V. Station – Simon von Cyrene hilft Jesus, das Kreuz zu tragen“ aus dem „Kreuzweg“ op. 29 (1931) von Dupré in einer ausdrucksstarken Orgelmusik hörbar.

 

Insgesamt fünf Stationen aus diesem Kreuzweg waren eingefügt in die beiden Vokalwerke, die jeweils die Passion nach Johannes zum Thema hatten. Die Stationen bildeten Inseln des Nachdenkens und Nachspürens der musikalischen In-Ton-Setzung des Passionsgeschehens in Distlers Motette „Fürwahr, er trug unsere Krankheit“ op. 12,9 (1941) und in der „Historia des Leidens und Sterbens unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi nach dem Evangelisten St. Johannem“ (1666) von Heinrich Schütz. Als am Ende des Konzerts mit dem langsamen Abschlag des Dirigenten die Raumbeleuchtung erlosch, der Chor im Halbdunkel stand und nur noch mattes Licht auf den Gekreuzigten hoch über dem Lettner fiel, da wurde in dieser sensiblen Lichtinszenierung erinnert und augenfällig, was eingangs in Distlers „Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten“ erklang.

 

Hugo Distler hatte 1941, während seiner Lehrtätigkeit als Professor an der Berliner Staatlichen Hochschule für Musik, begonnen, eine Johannes-Passion zu komponieren, als er erfuhr, dass ihm die Veröffentlichung dieser Kirchenmusik im NS-Staat schaden könnte: Distlers Intention der Erneuerung der protestantischen Kirchenmusik war dem Regime obsolet. In seiner Sammlung „Geistliche Chormusik“ erschien diese Motette aus der begonnenen Passion 1942, im Jahr seines Freitodes, in den die Repressalien des NS-Regimes ihn getrieben hatten.

 

Großes Vorbild für Distlers kirchenmusikalisches Schaffen war Heinrich Schütz. Denn auch Distler geht es um die Textausdeutung mit Mitteln der Melodik, der Intervalle und der Rhythmik. In spannungsgeladener, schmerzhaft und verstörend wirkender chromatischer Linienführung mit immer wieder überraschenden harmonischen Schlüssen der ineinander verschränkten Chorstimmen entwickelt Distler im ersten Teil das Lied vom Gottesknecht (Jesaja 53, 4,5). Im zweiten Teil kontrastiert er dazu den Choral „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“ als eine in sich ruhende, friedvolle, harmonische Klanggestalt. Die Nürtinger Kantorei sang dieses schwierige Werk, das hohe Anforderungen an Intonationsreinheit, Treffsicherheit und Rhythmik stellt, in beeindruckender Intensität unter dem zupackenden Dirigat von Michael Čulo.

 

Es folgte die Johannes-Passion, die Heinrich Schütz sechs Jahre vor seinem Tod in einem archaisch anmutenden Chorwerk in Ton setzte. Schütz übernimmt die mittelalterliche Form der Rezitativ-Passion, der er kurze Chöre einfügt: eine herbe A-cappella-Musik zum bitteren Karfreitagsgeschehen. Im choralartigen Schlusschor „O hilf, Christe, Gottes Sohn, durch dein bitter Leiden“ soll es als Movens für ein Leben in Dankbarkeit begriffen werden. Durch die Form der Rezitativ-Passion hat der Evangelist eine tragende Rolle. Hubert Mayer (Tenor) war hier eine ideale Besetzung. Mit seinem farben- und volumenreichen warmen Timbre gestaltete er in großen Spannungsbögen den Bedeutungsgehalt des Textes affektvoll und arbeitete die Wort-Ton-Gestalt überzeugend heraus. Sein absolutes Gehör gestattete ihm eine bewundernswerte Treffsicherheit, wenn er seinen Part nach den Kreuzwegstationen von Dupré fortführte.

 

Eindringlich sang Kai Preußker (Bariton) die Rolle des Christus. Unter den Chorsolisten Rosine Scheifele, Marcus Burkhardt, Günter Maier und Heiko Schall ist Letzterer besonders hervorzuheben; er sang den Part des Pilatus ausdrucksvoll und musikalisch sensibel. Angelika Rau-Čulo musizierte die fünf kontrastreichen Kreuzwegstationen an der registerreichen Goll-Orgel mit einfühlsamer Musikalität und hoher spieltechnischer Qualität. Mit feinem Gespür für vielfarbigen Ausdruck und mit großer Registrierungskunst erschloss sie eindringlich den Charakter der verschiedenen Stationen, in denen „die innere Klage aus der Musik“ (Dupré) drängt. Wenn auch die Ausführenden keinen Applaus wünschten, so sei er doch hier gegeben für ihrer aller beeindruckende Leistung.

 

NTZ, 10.04.2012